Archive werden nicht immer mit staatlichen Mitteln und institutioneller Politik aufgebaut. Sie können auch aus Bewegungen oder aus der Initiative von Einzelpersonen hervorgehen. Der fragile und oftmals nomadische Zustand dieser Archive wirft viele Fragen auf, die in Momenten der Dringlichkeit und des Überschwangs behandelt werden müssen. Können ein autonomer Akt der Archivierung oder die Übernahme der Archive als Gemeingut eine Antwort auf diesen Moment sein?
An diesem Abend haben wir Dr. Özge Çelikaslan mit ihrem neu erschienenen Buch „Archiving the Commons: Looking Through the Lens of bak.ma“ (dpr-barcelona, 2024) zu Gast, die ihre gleichnamige Dissertation an der HfG Karlsruhe begonnen und an der HBK Braunschweig abgeschlossen hat. Im Mittelpunkt des Vortrags steht ihre intensive Feldforschung zu bak.ma, einem webbasierten nomadischen Videoarchiv, das in der Türkei nach den berühmten Gezi-Protesten von 2013 initiiert wurde.
„Geschichten von Archiven sind immer Geschichten von Phantomen, vom Tod, vom Verschwinden oder von der Auslöschung von etwas, von der Bewahrung dessen, was übrig bleibt, und seinem möglichen Wiederauftauchen – von den einen gefürchtet, von den anderen ersehnt“, schreibt Thomas Keenan in seinem Vorwort zu diesem Buch.
Özge Çelikaslans visuelle und wissenschaftliche Arbeit konzentriert sich auf die Zusammenstellung von Gegenmedien-Narrativen sozialer Kämpfe, die Erforschung übersehener Bewegtbild-Artefakte und die Kartierung historischer und archivarischer Abwesenheiten durch verwaiste Bilder. Sie schloss ihre Promotion in Medienwissenschaften an der Kunsthochschule Braunschweig ab, wo sie umfangreiche Forschungen zu Archiven als Gemeingut durchführte, die in ihrer 2024 erschienenen Publikation Archiving the Commons: Looking through the Lens of bak.ma von dpr-barcelona.
Im Laufe der Jahre hat sie Testimonial-Videos, Dokumentar- und Experimentalfilme produziert, die auf verschiedenen Plattformen und Veranstaltungen gezeigt wurden, darunter die 3. Canakkale Biennale, die Transmediale 2016, die 14. und 17. Istanbul Biennale, die Seager Gallery und nGbK. Sie ist Mitbegründerin des digitalen Medienarchivs für soziale Bewegungen bak.ma und bleibt ein aktives Mitglied. Derzeit lehrt sie an der Fakultät für Gestaltung der Hochschule Mannheim und ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Kunst, Design und Sozialforschung. Außerdem ist sie Stipendiatin des Digitalstipendiums der Akademie Schloss Solitude (2024-2026), das gemeinsam mit dem Bakma Collective vergeben wird.
Archives are not always established with state funding and institutional policy. They can also emerge from movements or from the initiative of individuals. The fragile and often nomadic state of these archives raises many questions that need to be addressed in moments of urgency and euphory. Can an autonomous act of archiving or the adoption of the archives as commons be an answer to this moment?
On this evening we have Dr. Özge Çelikaslan as our guest with her newly published book "Archiving the Commons: Looking Through the Lens of bak.ma" (dpr-barcelona, 2024), who began her dissertation of the same title at the HfG Karlsruhe and completed it at the HBK Braunschweig. The lecture will focus on her intensive field research on bak.ma, a web-based nomadic video archive that was initiated in Turkey after the famous Gezi protests of 2013.
“Stories of archives are always stories of phantoms, of the death or disappearances or erasure of something, the preservation of what remains, and its possible reappearance—feared by some, desired by others,” writes Thomas Keenan in his foreword to the book.
Özge Çelikaslan’s visual and scholarly work focuses on assembling counter-media narratives of social struggles, exploring overlooked moving image artifacts and mapping historical and archival absences through orphan images. She completed her PhD in media studies at the Braunschweig University of Art, where she conducted extensive research on archives as commons, resulting in her 2024 publication Archiving the Commons: Looking through the Lens of bak.ma by dpr-barcelona.
Over the years, she has produced testimonial videos, documentaries, and experimental films, showcased across various platforms and events including the 3rd Canakkale Biennial, Transmediale 2016, 14th and 17th Istanbul Biennials, Seager Gallery, and nGbK. Co-founder of the bak.ma digital media archive of social movements, she remains an active member. Currently, she teaches at the Hochschule Mannheim Faculty of Design and serves as a research fellow at the Center for Arts, Design and Social Research. She is also a recipient of the digital fellowship at Akademie Schloss Solitude (2024–2026), awarded together with the Bakma Collective.
Die Serie Archive Talks wird vom Open Research Center (ORC) der HfG Karlsruhe organisiert und von der Stiftung Innovation in der Hochschullehre gefördert.
Weltweit entstehen immer mehr „marginale“, „laterale" oder nicht-institutionelle, selbstinitiierte, informelle und kleine private Archive, die von der Politik öffentlicher Institutionen hinterlassene Lücken schließen und marginalisierten Personen und Realitäten eine Stimme geben. Dabei handelt es sich oft nicht um Archive im eigentlichen Sinne, sondern um Indizes oder kreative Projekte, die mit Materialien und Daten auf neuartige Weise umgehen. Parallel dazu und in Verbindung damit ist eine große Anzahl von forschungsbasierten kreativen Praktiken entstanden, die mit der Aneignung und Neuformulierung archivarischer Methoden arbeiten und damit auf eine Medienrealität im beschleunigten Wandel reagieren. Das Internet und die neuen Medien fordern dazu heraus, neue Sprachen und Methoden des Archivierens zu entwickeln, aber auch eine politisch-strategische, interdisziplinäre Debatte darüber zu führen, was es wirklich bedeutet, Archivmaterial zu teilen beziehungsweise zu kommerzialisieren. Die oben genannten Phänomene: subalterne Archive, forschungsbasierte künstlerische Praktiken und das Aufkommen neuer Medien erschüttern das Archiv – sowohl Inhalt als auch formal – auf unterschiedliche Weise. Gerade der Blick auf kleine und marginale Archivierungsinitiativen lässt uns die heutigen Herausforderungen im Feld der Archive verstehen: das kontinuierliche Aufzeichnen von Ereignissen, das dynamische und autonome Verwalten von Daten, das Dokumentieren und Bewahren möglichst aller Stimmen.
Das Thema des 30-jährigen Jubiläums der HfG Karlsruhe ist "The future of“. Die Zukunft können wir nicht gestalten, ohne uns den gegenwärtigen Fragen der Archivierung des Vergangenen zu stellen. Um unsere Sicht auf die Realität, auf konventionelle westliche Formen des Wissens, der Klassifizierung und der Bewertung in Frage zu stellen, um die jüngste Vergangenheit und ihre materiellen und „immateriellen“ Veränderungen zu dokumentieren, um die vielfältigen und miteinander verknüpften Dringlichkeiten der Gegenwart anzugehen, brauchen wir sowohl das Archiv als auch seine Erschütterungen. Anstatt den Begriff des Fortschritts in Bezug auf die Zukunft allgemein und insbesondere auf die Zukunft des Archivierens zu verwenden, möchten wir die Dimension der Zukunft unter dem Aspekt des Potenzials untersuchen.
Gastredner*innen sind u. a. der Künstler Lawrence Abu Hamdan, die Begründerin des Cyberfeminism Index Mindy Seu, die Direktorin der Villa Romana in Florenz Angelika Stepken und die Wissenschaftlerin Özge Çelikaslan. Das Programm wird in Kürze veröffentlicht werden.
'Marginal/Lateral’ or non-institutional, self-initiated, informal and small private archives are cropping up across the globe to address gaps and offer a voice to marginalized bodies and realities. These are often not archives in the strict sense of the word, but come in the form of indexes or creative projects that reframe materials and data. Both in parallel and in conjunction, an unprecedented number of research based creative practices, which use appropriation and re-framing (by drawing from the archive or building it) as the basis for their work, and to make sense of a rapidly changing mediatic reality, have also emerged. The added context of the internet and the birth of new media have created the urgency to create a new language and method of archiving, as well for an ethical debate, across different disciplines, around what it really means to share (and often commodify) archival materials. The above fields of enquiry: subaltern archives, research based artistic practices and the emergence of new media are all shaking the archive—both in terms of content and container—in different ways. In order to re-shape our ways of keeping a dynamic record, of sorting and storing data, of preserving all voices, we cannot ignore small scale archival initiatives and attempts.
The theme of HfG’s 30 year anniversary is “the future of” and a future cannot be consciously built without facing a new set of questions around archiving present and past. In order to upend our learned assumptions about reality, about Western forms of knowledge, classification and value; in order to keep a record of the recent past and its material and immaterial transformations; in order to address the multiple, yet interconnected urgencies of the present, we need both the archive and the question, and neither of these ingredients can ever be static. Rather than adopting a notion of progress in relation to the future in general and the future of archiving more specifically, we would like to explore the idea of the future within the framework of potential.
Guests include artist Lawrence Abu Hamdan, Cyberfeminism Index Founder, Mindy Seu, director of Villa Romana in Florence, Angelika Stepken, researcher, Özge Çelikaslan and more. A detailed schedule will be released in the coming weeks.